29. April '20
James Giordano berät die amerikanische Regierung in der Corona-Krise. Der Professor der Georgetown University gilt als einer der weltweit führenden Experten für Biosicherheit und Bioethik – und er unterrichtet Studierende der Integrativen Gesundheitsförderung an der Hochschule Coburg als Gast-Professor. Normalerweise. Niko Kohls ist an der Hochschule Coburg Professor für Gesundheitswissenschaften und Spezialist für Medizinische Psychologie. Eigentlich arbeiten die beiden Professoren in Coburg immer eng zusammen. Aber in diesem Semester sitzen sie auf verschiedenen Kontinenten am Computer. Per Videokonferenz stehen sie den Studierenden Rede und Antwort. Im Interview gehen sie auch auf das ein, was gerade die Öffentlichkeit besonders beschäftigt: wie das Virus nicht nur Gesundheit, sondern auch Wirtschaft und Psyche angreift. Die Professoren erklären das große ethische Dilemma dieser Krise und die verschiedenen Strategien der Industrieländer.
Professor Giordano, Sie sind Mitglied einer Corona-Task-Force für die amerikanische Regierung – wie ist dieses Gremium aufgestellt?
Prof. Dr. James Giordano: Die COVID-Response-Task-Force des Verteidigungsministeriums besteht aus Ärzten, Anwälten und Vertretern der Gesundheitsberufe. Meine Rolle ist die eines beratenden Experten für biomedizinische und ethische Fragen.
Welchen Einfluss hat das Gremium? Die amerikanische Regierung wirkt auf uns Europäer oft eher beratungsresistent …
Giordano: Wir gehören zum Verteidigungsministerium und beschäftigen uns in erster Linie mit der nationalen Sicherheit in der Corona-Krise, mit medizinischen und ethischen Fragen, die für die Handlungsfähigkeit des Militärs von Bedeutung sind. Aber der zivile Sektor interessiert sich auch für unsere Empfehlungen. Wir versuchen zu zeigen, wie biomedizinische Maßnahmen gegen das Virus und die Zuweisung von Ressourcen ethisch umgesetzt werden können. Meiner Meinung nach sollten die Vereinigten Staaten auch die Zusammenarbeit mit den europäischen Verbündeten erneuern und verstärken, denn so könnten wir national und global Antworten finden – für die aktuelle Situation und die Zukunft. In der Vergangenheit war das sehr effektiv. Aber das ist meine persönliche Meinung. Sie spiegelt nicht unbedingt die Ansicht der Organisationen und Institutionen wider, mit denen ich zusammenarbeite.
Ressourcenzuweisung? Das bedeutet so etwas wie die Entscheidung, ob im Zweifel ein junger Vater mit Vorerkrankung ein Beatmungsgerät bekommt oder ein alter Mann ohne Vorerkrankung?
Prof. Dr. Niko Kohls: Es gibt in der Medizin bei Versorgungsengpässen Verfahren zur Priorisierung der Behandlung von Patienten nach Kriterien wie Krankheitsschweregrad oder Überlebenschance – auch unsere Studierenden der Integrativen Gesundheitsförderung sind oft zunächst geschockt, wenn sie sich zum ersten Mal damit beschäftigen. Die so genannte „Triage“ kommt zum Tragen, wenn es massenhaft Verletzte gibt wie beispielsweise beim ICE-Unglück in Eschede. Um die Abläufe zu verbessern, setzen aber auch viele Notaufnahmen strukturierte Triage-Werkzeuge wie das Manchester-Triage-System (MTS) zur Ersteinschätzung ein. Auch bei Regiomed gehört das zum Standard.
Werden die Menschen Gesundheit künftig anders sehen?
Giordano: Solche Krisen zeigen, wie wichtig Gesundheitsförderung ist. Wenn wir merken, dass bestimmte Umwelteinflüsse oder Lebensstile krank machen, steigt im jeweiligen Bereich der Bedarf an Prävention. Gerade erkennen wir, dass sich individuelle Gesundheit und die der Gemeinschaft wechselseitig beeinflussen, durch das Berufliche, das Soziale bis hin ins Politische. Das Gefühl, quasi immun zu sein gegen eine große, allumfassende Gesundheitskrise – das hat sich verändert. Das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen wird nun noch zunehmen, genau wie die Verpflichtung der Staaten, professionelle Gesundheitsprogramme einzurichten, die uns besser vorbereiten und schützen. Aber auch wenn wir Covid-19 behandeln können, wenn wir zurück zur Arbeit, in die Restaurants und Bars gehen, wird sich das Gefühl verändert haben. Es bleibt das Gefühl, dass so etwas wieder passieren kann.
Kohls: Wir werden vermutlich eine Art post-pandemische Paranoia erleben, also eine zweite psycho-soziale Krise. Wobei man auch sagen muss, dass unser Verhalten bisher epidemiologisch schlicht unbekümmert naiv war. In Asien laufen die Menschen – teils von uns belächelt – seit Jahren mit Masken herum. Spätestens seit der Vogelgrippe 2006.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen im internationalen Vergleich?
Giordano: Die Maßnahmen von Ländern wie Österreich, Deutschland, Singapur und Südkorea waren vorbildlich. In mancher Hinsicht können sie den USA als Modell dienen. Was Schweden macht, ist interessant. Schwedische Epidemiologen setzen darauf, die am stärksten gefährdeten Menschen besonders zu schützen. Dabei das öffentliche Leben weiterlaufen zu lassen und auf das Verantwortungsbewusstsein der Bürger zu vertrauen, ist ein Experiment – sowohl zur öffentlichen Gesundheit als auch zur sozialen Verantwortung. Um die Wirksamkeit genauer zu bewerten und sinnvolle Maßnahmen für andere Länder abzuleiten, sind aber weitere Daten erforderlich.
In Deutschland dreht sich jetzt viel darum, das wirtschaftliche und soziale Leben wieder hochzufahren – wie ordnen Sie die verschiedenen Argumente ein?
Giordano: Zweifellos ist es wichtig, die sozioökonomische Stabilität wiederherzustellen. Gleichzeitig hat die öffentliche Gesundheit Priorität – wenn nicht oberste Priorität. Ein echtes Dilemma.
Kohls: Wenn wir alle unsere Anstrengungen in die Bekämpfung der medizinischen Krise stecken, kann es sein, dass wir das Virus in den Griff bekommen – aber damit handeln wir uns jede Menge andere Probleme ein, vor allem die wirtschaftliche und psycho-soziale Krise, deren Konturen jetzt auch immer sichtbarer werden. Die anfängliche Lockdown-Strategie von Ländern wie Deutschland stand zunächst in der philosophischen Tradition der Pflichtenethik Immanuel Kants. Jetzt kippt die Stimmung zugunsten einer zweckorientierten Ethik, die den Nutzen des Handelns für die Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Es ist auch ein Dilemma zwischen dem Wohl Einzelner und dem Recht von Vielen.
Was ist jetzt also richtig und gut?
Giordano: Ausbalancierte Maßnahmen, um die drei skizzierten Problemfelder anzugehen: die Auswirkungen auf öffentliche Gesundheit, auf die Wirtschaft und die psychosozialen Belastungen. Unsere Forschungsgruppe ist der Ansicht, dass Testungen in großem Maßstab eine entscheidende Hilfe wären. Und das in Verbindung mit einer Klassifizierung: als derzeit infiziert, als zuvor infiziert und relativ immun oder als noch nicht infiziert und wahrscheinlich anfällig. So könnte herausgefunden werden, wer wieder in die Arbeitswelt zurückkehren und die Wirtschaft zumindest bis zu einem gewissen Grad wieder stabilisieren kann – und wer zunächst keine oder nur eingeschränkte soziale Kontakte haben soll.
Corona-Update
Die Corona-Krise verändert und entwickelt sich ständig weiter: Professor James Giordano beantwortet gemeinsam mit Professor Niko Kohls alle zwei Wochen die neuesten, brennendsten Fragen (in englischer Sprache). Hier geht’s zum aktuellen Video: https://youtu.be/6NsOhT3S850