20. Oktober '23
Die Welt entwickelt sich weiter – wie viele positive Entwicklungen dabei aus sozialen Bewegungen entstanden sind, verdeutlicht ein neues Fachbuch. Mit-Herausgeberinnen Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit und Prof. Dr. Andrea Schmelz von der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Coburg sprechen im Interview über bedeutende Bewegungen, über Verbindungen zu Sozialer Arbeit und darüber, warum es Forscher:innen nicht nur um analytische Ergebnisse geht. Sondern auch um Haltung.
Eine der seltenen Filmaufnahmen des Jahres 1913 stammt von einem Derby in England und zeigt, wie sich die Frauenrechts-Aktivistin Emily Davison vor das Rennpferd des Königs wirft. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur eine Frau in England, die sich politisch betätigen durfte, und das war die Queen. Mit aufsehenerregenden Aktionen kämpften die Suffragetten für das Wahlrecht (englisch „suffrage“) für Frauen. Es ist ein Beispiel – insgesamt ist die Geschichte sozialer Bewegungen geprägt von tragischen Schicksalen und Anfeindungen, aber eben auch von bahnbrechenden Erfolgen für Freiheit und Gerechtigkeit. Als entscheidender Faktor erwies sich dabei eine maximale mediale Aufmerksamkeit. Daran hat sich von den Suffragetten bis zu den heutigen Klima-Aktivist:innen der letzten Generation nichts geändert. Das neue Fach- und Lehrbuch „Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen“ ermöglicht einen historischen und internationalen Vergleich und eine professionelle Einordnung. Zwei der Herausgeber:innen forschen und lehren an der Hochschule Coburg: Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit und Prof. Dr. Andrea Schmelz von der Fakultät Soziale Arbeit berichten im Interview, wie die Wissenschaft zur Versachlichung der Diskussion beitragen kann – und warum es auch bei nüchterner Einschätzung manchmal richtig ist, Partei zu ergreifen.
Die Klima-Aktisti:innen der „Letzten Generation“ erregen viel Aufsehen – und viel Unmut. Wie ordnen Sie das ein?
Prof. Dr. Andrea Schmelz: Die deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit hat sich durch ein Positionspapier solidarisch mit dieser Bewegung gezeigt und darüber bin ich sehr froh. In unserem Buch kommt die Letzte Generation im Kontext der Verbindungen zwischen nationalen und internationalen Klima-, Gerechtigkeits- und auch Umweltbewegungen und ökologisch bewegter Sozialer Arbeit vor. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Protestformen des zivilen Ungehorsams in den sozialen Bewegungen immer eine Rolle spielten – ob bei den Suffragetten oder in der Frauen-Bewegung – immer ging es darum, Aufmerksamkeit für unhaltbare Zustände zu erregen. Die Klimakrise betrifft uns alle: Jetzt können wir noch etwas tun. Jetzt müssen wir aber auch handeln.
Viele finden die Protestformen zu radikal und kriminell – auch Polizei und Justiz …
Schmelz: Wenn die Letzte Generation beispielsweise Landschaftsgemälde mit Kartoffelbrei beworfen hat, ging es nicht darum, die Werke zu beschädigen – sie sind ohnehin hinter Glas – sondern darum, eine Diskussion anzustoßen darüber, dass es diese Landschaften vielleicht bald nicht mehr gibt und um Folgen wie Lebensmittelknappheit aufgrund von Extremwetterereignissen oder Dürrekastastrophen im globalen Maßstab, aber auch hierzulande. Bei dem viel diskutierten Verkehrsunfall in Berlin wurde inzwischen gerichtlich bestätigt, dass die Radfahrerin auch ohne die Verkehrsblockade leider nicht hätte gerettet werden können. Die Aktivist:innen achten auch darauf, einen Rettungskorridor zu ermöglichen, beispielsweise in dem sie sich mit einer Hand nicht auf die Straße, sondern an einen anderen Aktivisten kleben. Die Kriminalisierung ist unerträglich.
Was ist so schlimm?
Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit: Mitglieder der letzten Generation können präventiv in Haft genommen werden – besonders weitreichend sind dabei die Befugnisse der bayerischen Polizei. Jemand, der keine Straftat begangen hat, kann wochenlang eingesperrt werden. Ohne Gerichtsverfahren! Das ist ein schwerer Eingriff in Grund- und Menschenrechte. Und wir reden hier nicht von erwachsenen Straftätern, sondern von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die friedlich demonstrieren. Es ist sehr bedenklich, wenn Menschenrechtsbewegungen so kriminalisiert werden. Sie werden uns politisch vorantreiben und wenn wir in zehn Jahren auf diese Bewegung zurückblicken, werden wir dankbar dafür sein. Das ist die Natur von Menschenrechtsbewegungen: Sie müssen Störungsereignisse produzieren, um Gehör zu finden, um Aufmerksamkeit zu erregen. Innovation und positive demokratische Entwicklung kommen oft vom Rand und nicht aus der Mitte. Wir wären heute eine andere Gesellschaft, wenn wir diese ganzen wunderbaren sozialen Bewegungen nicht hätten. Zum Beispiel hätten wir ohne die ökologischen Bewegungen, die sich seit den 1980er Jahren entwickeln, nicht das Bewusstsein, dass Atomkraftwerke problematisch sind oder dass wir die Wälder schützen müssen. Dasselbe gilt für viele andere soziale Bewegungen.
Welche Bewegungen waren die erfolgreichsten?
Lohrenscheit: Bewegungen, die für Geschlechtergerechtigkeit eintreten, waren und sind sehr erfolgreich. Wenn wir 40, 50 Jahre zurückschauen, geht es um Frauenrechte. Hinzu kam der Schutz der sexuellen Orientierung. Insgesamt geht es einfach darum, dass für alle dieselben Freiheits- und Gleichheitsrechte gelten: beispielsweise das Recht auf eine Eheschließung von schwulen und lesbischen Paaren, aber auch die Selbstbestimmung der eigenen geschlechtlichen Identität. In Deutschland ist es heute verboten, bei Babys, die nicht mit einem eindeutigen männlichen oder weiblichen Geschlecht geboren werden, eine geschlechtskorrigierende Operation vorzunehmen. In unserem Buch wird auch ein intergeschlechtlicher Aktivist aus Uganda porträtiert, der dieses Thema gegen große Widerstände in seinem Heimatland gesetzt hat. Es gibt Riesenerfolge – aber gerade im Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit auch Rückschritte. Schwangerschaftsabbrüche werden in vielen Ländern kriminalisiert und die Frauen verfolgt, in einigen US-amerikanischen Staaten ist es verboten, im Schulunterricht über die sexuelle Orientierung zu sprechen. Die Worte schwul, lesbisch, bi, trans oder queer dürfen im Unterricht nicht gesagt werden. Es dürfen keine Kunstwerke gezeigt werden, in denen das Geschlecht zu sehen ist – wegen Michelangelos David verlor eine Schulleiterin ihren Job. Es ist verrückt! Wir sehen sehr konträre Entwicklungen: sehr erfreuliche und gleichzeitig sehr besorgniserregende.
Wie kamen Sie auf das Thema?
Lohrenscheit: Wir beide und auch unsere beiden Herausgeber-Kolleginnen forschen und lehren schon lange in diesen Bereichen – der Verlag hat uns wegen eines Lehrbuchs für die Internationale Soziale Arbeit angefragt.
Schmelz: Das Buch bündelt unsere jahrelangen Forschungsergebnisse, die wir auch immer wieder in die Lehre eingebracht haben.
Was haben Sie Neues entdeckt?
Lohrenscheit: Ich bin auf den Begriff Adultismus gestoßen, der das Machtungleichgewicht zwischen jungen Menschen und Erwachsenen bezeichnet – auch im Bezug auf gesellschaftliche Strukturen. Manche sagen da: Na logisch! Kinder sind noch klein und Erwachsene müssen sich kümmern. Aber die UN-Kinderrechtskonvention gibt vor, dass Kinder das Recht haben mitzubestimmen und auch politisch teilzuhaben. Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit dem Thema Menschenrechte und mit Kinderrechten – und Adultismus ist ein relativ neues, spannendes Thema. Das höre ich auch von den Studierenden.
Schmelz: Einer meiner Schwerpunkte ist Migrationssozialarbeit und ich habe festgestellt, dass soziale Bewegungen im Bereich der Migration in der Sozialen Arbeit kaum wahrgenommen werden – und umgekehrt gibt es Aktivist:innen, die zum Beispiel geflüchtet sind und große Vorbehalte gegen die Soziale Arbeit haben, weil Soziale Arbeit in diesem Bereich eben sehr oft Erfüllungsgehilfin staatlicher Aufträge ist. Beispielsweise, wenn es um Abschiebung geht. Ein anderer Schwerpunkt sind bei mir die ökologischen Bewegungen, die es seit Jahrzehnten sowohl weltweit als auch hier in Deutschland gibt und was Klimagerechtigkeit und sozialökologische Transformation für sozialarbeiterisches Handeln bedeutet. In diesem Bereich gibt es noch wenig Forschung.
Lohrenscheit: Was ich beim Thema Klima wirklich überraschend finde, ist dass Wissenschaftler:innen sich heute mehr und mehr auch selbst als Aktivist:innen verstehen – das ist in dieser Dimension neu, obwohl wir dieses Engagement zum Beispiel auch aus der Frauenhausbewegung kennen.
Die Wissenschaft warnt aber doch bereits seit Jahrzehnten vor den Folgen des Klimawandels …
Lohrenscheit: Ja, und jetzt gehen wir auch auf die Straße. Eine Kollegin war beispielsweise in Lüzerath dabei, als das Dorf für den Abriss geräumt wurde, weil ein Energiekonzern den Kohleabbau ausbauen will.
Ihr Buch gibt einen Überblick über weltweite Bewegungen und die Verbindungen zu Sozialer Arbeit. Wem würden Sie es gerne mal auf den Nachttisch legen?
Schmelz: In erster Linie richten wir uns an Studierende der Sozialen Arbeit, aber natürlich auch an Praktiker:innen und alle, die sich für sozialwissenschaftliche Themen und Proteste gegen globale Ungleichheiten und Gewaltverhältnisse interessieren. Mit diesen gesellschaftlich relevanten Fragen sollen sich auch diejenigen beschäftigen, die ansonsten eher in technischen Fächern unterwegs sind.
Lohrenscheit: Es ist natürlich auch für die Aktivist:innen selbst spannend, die finden sich darin wieder und es sind auch viele Ikonen der sozialen Bewegungen porträtiert. Was mich in meinem Themenfeld beschäftigt, richtet sich vor allem an die Politik, deshalb – ja, ich würde es dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf den Tisch legen, dem Bundesjustizministerium und dem Bundesinnenministerium.
Zum Buch:
Claudia Lohrenscheit / Andrea Schmelz / Caroline Schmitt / Ute Straub: Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2023, 232 Seiten, 24 Euro.